Wandlung der ethischen Auffassung über Euthanasie in England

in Alter und Tod - annehmen oder Verdrängen (Conference Report), ed. W. Bitter, pp. 139-46, Stuttgart, Ernst Klett Verlag, 1974

transl. by Ingrid Veitinger


    Als ich noch Medizinstudent und eben approbierter junger Kran­kenhausarzt war, hatten die Mediziner zum Tod eine ziemlich ro­buste, aus der Praxis heraus geprägte Einstellung. Man gewährte einem Sterbenden jede denkbare Erleichterung und Pflege, unternahm jedoch keine außerordentlichen Versuche, sein Leben über seinen wahrscheinlich natürlichen Ablauf hinaus zu erhalten. Noch immer war die Lungenentzündung »des alten Menschen Freund«, und ohne wirksame Medikamente gegen diese und andere plötzlich auftretende Krankheiten lebten alte Menschen nicht mehr lange, nachdem sie einmal körperlich oder geistig hinfällig geworden waren. So war die Zahl der alten Leute recht klein, die entweder in den Krankenabtei­lungen örtlicher Krankenhäuser oder in den Altenabteilungen psy­chiatrischer Kliniken Pflege beanspruchten. Alte und Hilflose stell­ten keine großen Forderungen an die sozialen Dienstleistungen im damaligen England.

    Eine ähnliche Einstellung bestand gegenüber den unheilbar Kran­ken und den völlig Hilflosen anderer Altersgruppen. So wurde zum Beispiel ein junger Mann, der eine ernste Hirnverletzung erlitten hatte, nicht über Tage, Wochen, Monate, ja über Jahre hinaus im Zustand der Bewußtlosigkeit durch maschinelle Stützung der vegeta­tiven Funktionen am Leben erhalten. ‑ Man konnte es ja damals noch gar nicht! Ebenso war das Verhalten gegenüber pathologischen Schäden bei Neugeborenen in den meisten Krankenhäusern realistisch. Hochgradig abnormale Neugeborene wurden in der Fachliteratur unter der Rubrik »Monstra« beschrieben. Sie waren nicht lebensfähig, und so dachte man nicht daran, sie als menschliche Lebewesen voll einzu­stufen. Ein Spina‑bifida‑Baby (ein Neugeborenes mit angeborener Spaltbildung der Wirbelsäule) mit offenem Bruch oder mit Wasser­kopf pflegte man nach der Geburt an einen kalten Ort zu legen, damit es sterbe. Der Mutter sagte man, das Kind habe nicht gelebt Zwar verfuhr man nicht überall auf diese Art, aber dieses Vorgeher war doch recht verbreitet. Sofern man auf den Entbindungsstationer anders vorging und Spina‑bifida‑Babys medizinische Hilfe zuteil werden ließ, pflegten sie eine Zeit lang trotz ihrer spastischen und geschädigten Kondition zu überleben und in Kinderkrankenhäuser und psychiatrische Kliniken überwiesen zu werden. Ihre Lebenserwartung war niedrig, und nur die am wenigsten Geschädigten erreichten das Erwachsenenalter.

    Zu jener Zeit ‑ etwa in dem Jahrzehnt von 1925 bis 1935 ‑ stand die Berufsgruppe der Mediziner dem Tod nicht als ausgepräg ter Gegner gegenüber. Noch war es nicht ethisches Postulat, das Leben, das gerettet werden konnte, um jeden Preis zu retten. Darin hatten die Arzte die Unterstützung der Laien. Tatsächlich war eine nicht unbedeutende Minderheit der Meinung, daß Arzte mehr tun könnten, als es üblich war, um den Eintritt des Todes zu erleichtern 1936 wurde im Oberhaus eine Gesetzesvorlage zur freiwilligen Euthanasie eingebracht. Von einem bedeutenden Chirurgen, Lord Moynihan, wurde sie mit folgenden Worten unterstützt: [1]

“Kurzum, es ist unser Wunsch, die gesetzliche Anerkennung des Grund satzes zu erreichen, daß in Fällen von fortgeschrittener und offensichtlich tödlicher Krankheit, die von einem Todeskampf begleitet ist, der die Grenzen der menschlichen Leidensfähigkeit erreicht oder überschreitet, der Kranke nach rechtsgültiger Untersuchung und unter Beachtung aller Sicherheiten das Recht haben soll, Erlösung zu fordern und zu erhalten.”

    Die Mehrzahl der Mediziner jedoch war gegen diese Gesetzesvor lage, und zwar hauptsächlich mit der Begründung, daß die Arzt ohnehin alles ihnen mögliche täten und einer gesetzlichen Genehmigung nicht bedürften. Anläßlich der zweiten Lesung der Vorlage ax beitete Lord Dawson, ein bedeutender Arzt, einen interessanten Gegensatz zwischen der derzeitigen medizinischen Auffassung und de Ansichten heraus, die fünfzig Jahre früher vorherrschend waren:

“Es war unbestrittene Tradition, daß es die Pflicht der Arzte sei, den Kampf um das Leben bis zu seinem Ende zu führen. Das hat sich mit der Zeit geändert. Langsam und fast unmerklich ist bei den Medizinern das Gefühl aufgetreten, man solle den Prozeß des Sterbens menschenwürdiger und friedlicher gestalten, und zwar auch dann, wenn eine Verkürzung des Lebens damit verbunden wäre. Das ist mehr und mehr der Brauch geworden.” (Auch wenn ein größerer zeitlicher Abstand zwischen Leben und Tod besteht, das Leben aber mit einer unheilbaren Krankheit belastet ist) “sollten unsere ersten Uberlegungen der Linderung der Leiden gelten, auch wenn diese Linderung zu einer Verkürzung dieses Lebens führt ... Wird der zeitliche Abstand zwi­schen einem mit unheilbarer Krankheit belasteten Leben und dem Tod grö­ßer, so zeigen sich größere Probleme, und sehr viel mehr Entscheidungsmög­lichkeiten ergeben sich bei Arzten und Patienten. Dennoch besteht im großen und ganzen die sich immer weiter verbreitende, wenn auch noch nicht öffent­lich zum Ausdruck gekommene Auffassung, daß eine Verkürzung dieses zeit­lichen Abstandes dann nicht versagt werden sollte, wenn eine echte Notwen­digkeit dafür gegeben ist. Dies ist die Folge einer wahrhafteren Konzeption dessen, was Leben bedeutet und was das Ende seiner Sinnhaftigkeit erfordert.«

     Obwohl sich Lord Dawson nicht völlig eindeutig ausdrückt, er­scheint es doch klar, daß er sich auf die wohlerwogene Verkürzung des Lebens bezieht mit dem Ziel, das Leiden zu erleichtern. Das ist ‑ natürlich ‑ Euthanasie. Als solche wird sie bis heute vom engli­schen Recht als ungesetzlich betrachtet. Das äußerste, was als noch im Einklang mit dem herrschenden Recht in England angesehen wird, ist die Erleichterung der Leiden mit dem Risiko und sogar mit der als sicher zu unterstellenden Erwartung, daß der eingeschlagene Weg zur Erleichterung der Leiden das Leben verkürzt. Die Verkürzung des Lebens als Selbstzweck jedoch ist nach wie vor ungesetzlich.

    Die Gesetzesvorlage zur freiwilligen Euthanasie von 1936 fiel mit 14 Jastimmen gegen 35 Neinstimmen beim Hammeisprung durch. Eine weitere Gesetzesvorlage zur freiwilligen Euthanasie wurde 1969 im Oberhaus eingebracht. Inzwischen hatten sich natürlich die medi­zinischen Möglichkeiten der Arzte, Menschen gegen alle Widrigkeiten am Leben zu erhalten, sehr vergrößert. Etwa 1969 begannen diese medizinischen Praktiken die gebildete Offentlichkeit zu beunruhigen. Die Beteiligung der Lords war größer, die Debatte äußerst lebhaft. Aber noch einmal stimmten ihre Lordschaften im Oberhaus mit 61 gegen 40 Stimmen gegen die Gesetzesvorlage. Diese Vorlage sah nicht nur das Recht des unheilbar Kranken auf den Tod vor; sie sah dar­über hinaus das Recht eines jeden Erwachsenen vor, eine Vorab‑Er­klärung abzugeben, nach deren Bestimmungen verfahren werden mußte, wenn er z. B. durch einen Hirnschaden unfähig werden sollte, seinen Willen zum Ausdruck zu bringen.

    Die Gesetzesvorlage von 1969 wurde von der Britischen Vereinigung zur freiwilligen Euthanasie (British Voluntary Euthanasia Society) unterstützt. Sie wurde etwa 1936 gegründet, ist seither stark ange wachsen und hat heute etwa 1200 Mitglieder. Diese Vereinigung ver breitet ein Erklärungsformular, das Patienten bei ihren Hausärztei deponieren können. Dieses Dokument autorisiert selbstverständlicl nicht zur Euthanasie, macht es aber für den behandelnden Arzt mo ralisch und psychologisch leichter, sich dessen zu bedienen, was da geltende Recht inzwischen wirklich erlaubt. Erlaubt ist die Preisgab aller Wiederbelebungsbemühungen oder die Anwendung scbmerzstil lender Medikamente in einem Maße, das sich binnen kurzem tödlid auswirken muß. Das Dokument lautet:

 »Ich (Name und Adresse) gebe diese Erklärung nach sorgfältiger Uberlegung und zu einer Zeit ab, da ich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte bin. Für den Fall, daß ich einmal nicht mehr über meine eigene Zukunft entscheiden kann, soll diese Erklärung als meine letztwillige Verfügung gelten:

Sofern keine vernünftige Aussicht auf meine Gesundung von körperlicher oder geistiger Krankheit oder von einer Schädigung besteht, von denen angenommen werden muß, daß sie mir schweres Leiden verursachen oder mir ein bewußtes Existieren unmöglich machen werden, so fordere ich, daß man mich sterben läßt und nicht durch künstliche Mittel am Leben erhält. Ich fordere weiter, daß ich jede notwendige Menge Drogen bekomme, die erforderlich ist, mich von Schmerz und großer Belastung völlig zu befreien, auch wenn dadurch der Augenblick meines Todes früher herbeigeführt wird. Diese Erklärung ist von mir unterzeichnet und datiert, und zwar in Gegenwart der beiden unten aufgeführten, gleichzeitig anwesenden Zeugen, die auf mein Ersuchen und in meinem Beisein ihre Namen als Zeugen unter dieses Dokumes gesetzt haben, (gezeichnet, datiert und beglaubigt)«

     Für dieses Erklärungsformular hat die englische Presse geworbes und viele Menschen haben es inzwischen angefordert. Auch eine Reihe von Medizinern hat dieses Formular unterzeichnet und bei ihren behandelnden Arzten deponiert. Weitere Beweise für die Wandlung in der Einstellung der Ärzte kann man den Leserzuschriften der medizinischen Fachzeitschriften entnehmen: so etwa die Ansicht, daß der Tod »das Gesunde« sei, sofern die Alternative aus langwierigem Leiden und Krankheit bestehe. Hausärzte sind im allgemeinen sehr viel eher geneigt, den Tod als Freund zu betrachten, als Ärzte, die stets in Krankenhäusern arbeiten. Aber zumindest auf einigen der vielen Intensivstationen instruieren die ärztlichen Autoritäten ihre Mitarbeite welche Patienten bei Auftreten einer Krise zu retten sind und welche Patienten man sterben läßt. Meinungsumfragen haben ergeben, daß etwa die Hälfte der englischen Hausärzte irgendwann in ihrer Prax mit der Forderung eines Patienten auf endgültige Erlösung konfrontiert war; und man kann wohl annehmen, daß die meisten der Ärzte, die die Konfrontation mit einer derartigen Forderung zugeben, sich gelegentlich bereitgefunden haben, ihr zuzustimmen.

    Ich habe kürzlich mit Interesse festgestellt, wie sehr sich die Ein­stellung der Kinderärzte gegenüber der »Rettung‑um‑jeden‑Preis«­Ausrichtung bei hochgradig abnormalen Neugeborenen geändert hat. [2] Offenbar erhalten Spina‑bifida‑Babys (Babys mit angeborener Spalt­bildung der Wirbelsäule) sofortige ärztliche Hilfe auf den Entbin­dungsstationen, werden aber dann ‑ bisweilen innerhalb weniger Stunden ‑ in Kinderkliniken überwiesen. Die Kinderärzte sind heute davon überzeugt, daß bei Babys mit hochgradiger Spina‑bifida die Er­haltung des Lebens nur zu Jahren des Leidens für das Kind selbst und seine Eltern führt. Nachforschungen haben ergeben, daß sich Ehe­probleme vervielfachen, ja selbst die Geschwister ein unangepaßtes Verhalten entwickeln. Eltern, die mit der Sorge um ein schwer be­hindertes Kind belastet sind, richten mit großer Wahrscheinlichkeit ihr ganzes Leben auf dieses Kind aus und nehmen die Möglichkeit, ein weiteres, gesundes Kind zu haben, nie mehr wahr. So teilen die Kinderärzte in England neuerdings die Kinder mit Spina‑bifida ein in solche, denen jegliche medizinische und chirurgische Hilfe zuteil wer­den soll, und jene, deren Ableben man in wenigen Wochen erwarten muß. Das Kind wird nicht getötet, aber das Regime ist derart, daß (z. B. bei halber Kalorienzufuhr, Weglassen von Antibiotika etc.) ein Überleben über diese Dauer hinaus nicht eintritt.

    Es ist kein zufriedenstellendes Vorgehen, durch das wir ‑ ohne zu töten ‑ immerhin sicherstellen, daß ein Patient nicht überlebt. Wir scheinen uns in England in einem Übergangsstadium der ideellen Revolution zu befinden. Binnen kurzem werden wir uns die Frage stellen müssen, ob es nicht unter bestimmten Umständen unsere Pflicht ist, ein Leben ohne Verzug zu beenden, das heißt, ob es nicht unsere Pflicht ist zu töten. Angesichts solcher Pflichten können wir nicht weiterhin im Verborgenen handeln. Was dieses Problem angeht, so muß die gesamte öffentlichkeit ins Vertrauen gezogen werden und den Grundsätzen zustimmen, die den Arzt im Einzelfall leiten sollen. Die öffentlichkeit hat nicht einmal eine entfernte Vorstellung von der Häufigkeit, von dem Ausmaß und der Art des Leidens, das eine langwierige tödliche Krankheit verursacht. Wüßte sie davon, so würde sie uns vielleicht die klare Anweisung geben, man solle derartiges Leiden nicht zulassen. Aber wie die Dinge liegen, verbirgt sich das alles unter einem täuschenden Schleier: Wunderdrogen, Wunderoperationen, elektronische Geräte, Nieren‑, Herz‑ und Lebertransplantationen ‑ sie sollen den unheilbar Kranken heilen und die medizinischen Probleme lösen, deren humane und psychologische Aspekt völlig übersehen werden.

    Wenn schon nicht die Offentlichkeit, so werden sich doch endlich die Arzte des Versagens des »engineering approach«, der technischen Medizin bewußt, jener Art der Medizin, die den Arzt zum Techniker macht. Wenn auch die allgemeine Lebenserwartung in den letzten hundert Jahren durch das Absinken der Säuglings‑ und Müttersterblichkeit, durch die Beherrschung der Kinderkrankheiten usw. stark angestiegen ist, so bleibt trotz aller Anstrengungen der medizinischen Wissenschaft der letzten zwanzig Jahren die Lebenserwartung eines fünfundvierzigjährigen Menschen weitgehend die gleiche wie vor hundert Jahren. [3] Unsere gewaltigen Bemühungen um die fortgeschrittene Brustkorbchirurgie, die Strahlentherapie, die Intensivpflege und andere moderne Einrichtungen haben die aus unserer ungesunden Lebensführung resultierende Morbidität nicht gemindert, das Problem aber verschärft. Die winzigen Anstrengungen, die zur Einschränkung des Tabakkonsums unternommen wurden, haben trotz begrenzter Erfolg mehr für unsere Gesundheit getan als alle fortgeschrittene technische Medizin.

    Der Fortschritt der medizinischen Wissenschaft ist auf eines der Hauptziele in der ärztlichen Ethik ausgerichtet: auf die Erhaltung des Lebens. Die zweite ärztliche Hauptaufgabe, die Vermeidung und Erleichterung der Leiden, hat nicht die gleiche Aufmerksamkeit erfahren. Diese beiden Ziele befinden sich bisweilen im Konflikt; so sieht sich der Patient, dessen Leben gerettet werden soll, unter Unständen zu einem langen und verzweifelten Kampf aufgerufen, ehe er zu einem normalen Leben zurückkehren kann, oder wenigstens einem Leben, das ‑ wenn auch beeinträchtigt ‑ doch lebenswert ist. Aber selbst dort, wo diese Belohnung nicht gegeben ist, fordern wir unsere Patienten immer noch auf, den Kampf bis zum bitteren Ende durchzufechten. Das bedeutet, daß wir unsere Verpflichtung, Leiden zu verhindern, vergessen. Bei einer eindeutig tödlichen Krankheit soll­ten wir unsere Patienten nicht dazu veranlassen, vermeidbares Leiden und vermeidbare Belastungen auf sich zu nehmen. Wir sollten wirk­lich nichts tun, was lediglich dazu beiträgt, das Leben zu verlängern. Denn die Verlängerung des Lebens ist dann die Verlängerung des Sterbevorganges, eines Prozesses, der für den Patienten, für seine Familie und alle, die sich um ihn sorgen, furchtbar ist. In einer sol­chen Situation benötigen wir ein anderes Vorgehen, einen wohler­wogenen Plan, der eindeutig vorschreibt, wie Arzt und Pfleger dem Kranken das größtmögliche Maß an Wohlbefinden und Entlastung verschaffen und alles tun, was ethisch und gesetzlich erlaubt ist, um die Krankheit abzukürzen.

    Epicuros sagte: »Im Leben eines Menschen gibt es nichts Schreck­liches, wenn er wirklich verstanden hat, daß es nicht schrecklich ist, nicht zu leben.« Damit diese Worte wahr werden, muß die Beendi­gung des Lebens eine greifbare Alternative sein, wenn die Fort­setzung des Lebens unerträglich wird. Seit dem Suizidgesetz von 1961 ist in England der Selbstmord nicht mehr gesetzeswidrig, obgleich es immer noch für jedermann ‑ Arzt oder Verwandte ‑ gesetzeswidrig ist, Beihilfe zum Selbstmord zu leisten. Trotz dieses Gesetzes halten es die meisten Ärzte immer noch für ihre Pflicht, den Suizid zu ver­hindern, wenn es in ihrer Macht steht. Dieses Vorgehen richtet sich heute gegen sich selbst. Wir haben in England eine wahre Epidemie sogenannter Selbstmordversuche, deren Zahl innerhalb der letzten zehn Jahre um das Achtfache gestiegen ist. Für die emotional Gestörten ist der »Versuch« eines Selbstmordes quasi ein bevorrechtigter Anspruch auf psychiatrische oder soziale Hilfe.

    Das ist ein Problem, für das sich keine leichte Lösung anbietet. Aber es hat zu einigen neuen Cberlegungen geführt. Es wird immer problematischer, ob man in jedem Falle versuchen soll, den Selbst­mörder zu retten. Suizidstudien an älteren Menschen haben ergeben, daß viele, die auf diese Weise den Tod wählten, bereits unheilbar krank waren oder ein Leben der Einsamkeit und Verlassenheit führ­ten oder durch den Verlust eines ihnen eng verbundenen Menschen seelisch zerstört waren. Ich glaube nicht, daß der Arzt dazu berufen ist, solche Menschen daran zu hindern, sich das Leben zu nehmen, die fest dazu entschlossen sind. Ich würde diese Freiheit sogar für einen psychotischen Patienten beanspruchen. Das Recht zu sterben, wenn das Leben nicht mehr erträglich ist, sollte als ein menschliches Grundrecht gewährt werden. Und der Suizid sollte ein ethisch und gesellschaftlich akzeptierter Weg sein, das Leben zu beenden ‑ gerade weil er ein vernünftiger Weg sein kann.

 

[1] Parliamentary Debates: House of Lords, Tuesday, ist December 193 Vol. 103, No. 11, London: His Majesty's Stationery Office.

[2] H. B. Eckstein, G. Hatcher, und E. Slater, New horizons in medical ethics: severely malformed children, Brit. med. J. 11 (1973), 5. Mai, S. 184‑189.

[3] J. Powles, On the limitations of modern medicine, Sci., Med. and Man (1973), S. 1‑30.